Als moderner Nomade, unterwegs von Schutthalde zu Schutthalde, schließt Reiner Seliger das Potenzial der Kunst immer wieder in einer neuen poetischen Form auf. Im Gestus des Kreativen hat er es sinnbildlich in der Hand, die Zerbrechlichkeit der Welt zu zeigen und als Ausgangspunkt seiner organisch gewachsenen „Archiskulpturen“ auf die Endlichkeit alles Irdischen zu verweisen. Wenn das Wechselspiel zwischen Architektur und Skulptur mit zu den aufregendsten künstlerischen Phänomenen des 20. Jahrhunderts gehört, dann steht Seliger mittendrin und zugleich zwischen den Stühlen.
Seit den frühen 1990er-Jahren baut er bei Wind und Wetter auf den Abfallhalden der Städte unermüdlich an seinen Steinformationen, die als „one day sculptures“ eine temporäre Existenz bekommen und gleichzeitig ein flüchtiges Merkzeichen in der Landschaft bilden. Werden sie abgebaut und in neuem Ambiente wieder errichtet, beginnt für die Objekte eine Art zweite künstlerische Lebensphase.
Für Seliger, der als Material seiner Kunst Ziegel, Marmor und Natursteine oder neuerdings auch Glas, Kreide und Styropor einsetzt, bleibt als Materialästhet die Materie stets eine eigenständige Grundsubstanz der Form und übt beträchtlichen Einfluss auf die Wirkung der Werke aus. In seiner Kunst verschmelzen Form und Inhalt zu etwas vollständig „Anderem“. Man ist versucht, von einem unbekannten „Dritten“ zu sprechen. Im Gepäck dieses Kunstnomaden ist dieses Neue, Rätselhafte und Geheimnisvolle lebendig präsent. Es dient ihm als Substanz für seine Aufbrüche zu einer Poetik der Form.
Reiner Seliger, Jahrgang 1943, erlangt Aufmerksamkeit mit steinernen Plastiken, die als runde, eckige und kantige Formengebilde in ihrer naturbelassenen Farbigkeit Produkte von Schutthaldenmaterial sind. Dabei verzichtet er bewusst auf den Sockel. Er ist gegen eine Erhöhung der Kunst und will sie auf den Boden der Realität gestellt sehen.
Sein künstlerischer Antrieb verweigert sich der Äußerlichkeit und der Erfindung einer Figur. Wichtig ist ihm das Gestalten von eindrucksmächtigen Formen, die unmittelbar die sinnliche Wahrnehmung erreichen und Einfluss auf das Körperempfinden nehmen.
Seliger lässt Formen entstehen, die eine Art inneres Design, eine Imaginationswelt abrufen. Im Außen wird dargestellt, was im Innern angelegt und strukturell vorhanden ist. So materialisiert der Künstler, wie von verschiedenen Autoren beschrieben, im Gestaltungsprozess die innere Form zu sinnlich wahrnehmbaren Objekten: zu Kokons und Waben (Gundula Caspary), zu Behausungen für Geister (Martin Stather), zu Rohbauten (Gottlieb Leinz), zu Raumkörpern (Uwe Rüth), zu temporären Türmen und Pyramiden (Linde Hollinger).
Das Ringen um die äußere Gestalt ist immer auch ein Äquivalent zum Ringen um das „innere Bild“ des Künstlers. Wenn dann eine ästhetisch überzeugende Form gelingt, in der sich der neugewonnene Wert des Natur- oder Kunststoffs in die Qualität des nun künstlerisch gestalteten Werkstoffs transformiert, wird im Betrachter ein Moment von Wahrhaftigkeit evoziert, und die Form wird für Augenblicke zum Träger einer elementaren und existenziellen Bedeutung.
Reiner Seliger hat keine Nägel eingeschlagen, hingegen schon viele Ziegel in die Höhe gestemmt und aufeinandergeschichtet, weniger um damit Fetische für die Kunstgeschichte zu hinterlassen, sondern um Geschichten über das eigene Leben zu erzählen, über das als Kind im Spiel erlebte Chaos der Nachkriegszeit und über die an den Erwachsenen orientierte Ordnungssuche. Die Originalität seiner Werke nährt sich aus diesen historischen Quellen. Der Wert dieser Ursprünglichkeit entsteht aus den Ordnungsstrukturen des Anfangs und den Anordnungen der Einzigartigkeit. Daraus bündelt sich das energetische Potenzial seines Schaffens. Deshalb erinnert bei Seliger „jede Trümmer-Skulptur“ an die Suche nach einem Ursprung, der mehr ist als die Splitter und Bruchstücke des Jetzt.
Als Kind spielt Seliger zwischen den vom Krieg zerstörten Gebäuden in Düsseldorf und formt aus dem herumliegenden Bauschutt eingestürzter Häuserwände eine eigensinnige Phantasiearchitektur. Er besucht seinen Vater am Arbeitsplatz in einer Ziegelei. Was er dort an Schönheit erlebt, prägt sein Innenleben. So bilden heute seine ästhetisch durchdrungenen Projekte und Plastiken eindrucksvolle Ruhepunkte. Die Verwendung von Abbruchmaterial ist dabei ein Verweis auf ein nachhaltiges Gestalten von Kunst und bezieht ihre Kraft aus Kreativität und Aktivität, aus Können und Phantasie. Hinter jedem Werk steht als Ideal die poetische Gestalt. Diese kann vielseitig und komplex sein, doch in letzter Konsequenz ist sie bei Reiner Seliger immer einfach und klar zu lesen. Bei ihm findet sie zu einer stimmigen Einheit von Material, Form, Natur, Schönheit und Nachhaltigkeit.
Während in der Bildhauerei die Monumentalität der Einfachheit oft abstrakte Konzepte erzeugt, vermittelt die Betrachtung der Werke von Reiner Seliger stattdessen das Gefühl, als wachsen Volumina organisch aus dem Boden. Seine Konstruktionen wirken wie „archetypische, prähistorische Monumente und geheimnisvolle Kammern wandernder Nomaden“ (Gottlieb Leinz), in denen die Natur (des Steins) eine gleichwertige Mitspielerin ist. Seliger wählt bewusst den Dialog mit der Natur, vertraut auf den Natur und Selbsterfahrung durchdringenden Akt des Erkennens und verdichtet in seinem Schaffen den Verwandlungsmoment von Naturstoff in Kunstprodukt.
Die von Seliger unter Zuhilfenahme der Materialien Marmor, Backstein und Ziegel sorgfältig angeordneten Plastiken sind Ausdruck einer Achtung vor der Natur und haben das Zeichenhalte einer Gestaltungsspur. Wenn seine Arbeiten gleichermaßen fragil wie kraftvoll erscheinen, dann drückt sich darin das Empfinden einer poetischen Form aus, die in der Balance von Gestalt und Material ihre Bedeutung gewinnt. Diese Balance ist lebensnotwendig. Wer sich bewusst macht, dass die menschlichen Sinne wie Fühler das Ungleichgewichtige in uns und in der Umwelt aufspüren. erkennt die Sinnhaftigkeit einer inneren Balance. Um diese Balance zu halten, konstruieren wir poetische Formen – wie Reiner Seliger es beherrscht.