Paolo Bianchi

Reiner Seliger – Prekäre Formen

Ein großes Thema der aktuellen Kunst ist die Befragung unseres Verhältnisses zur Natur. Als wahrer und heiler Grünort ist sie den Menschen längst abhandengekommen. Sie wurde erobert, gebändigt und zivilisiert. Ein Künstler wie Reiner Seliger (geboren 1943 in Löwenberg/Schlesien, lebt in Freiburg im Breisgau) betreibt denn auch immer mehr die Annäherung zwischen Skulptur und Natur. Mit seinen bekannten rotbraunen Ziegelstein-Skulpturen steht er außerhalb einer Ikonologie, in welcher die Natur das Paradies, das Strafgericht oder die arkadische Idylle verkörpert. Er will vielmehr parallel zur Natur arbeiten, um die Natur in ihrer sinnlich-geistigen Totalität selbst zu erfahren und ihr tausendfaches Leben im plastischen Ereignis zu konkretisieren. Abseits seiner „normalen“ künstlerischen Produktion ist der Künstler nun in Ettenheim bei Freiburg auf eine Bauschuttdeponie gestoßen, die ihm als „neue Spielwiese“ dient. Täglich werden dort von riesigen LKWs Ziegel, Keramik, Beton- und Ytongplatten angeliefert, auf Halden gekippt, und für den Verkauf zu Schotter zermahlen. In diesem Bausteineparadies kann der Künstler nach freiem Willen tun und lassen.

Besessensein vom Bauen

Aus Beton und Ziegeln konstruiert Seliger hier seine „Ein-Tages-Skulpturen“. Es handelt sich hierbei um Architekturereignisse, die spontan entstehen und umstandslos umgesetzt werden. So nimmt auch das Ergebnis von der Schnelligkeit des Aufbaus und der dadurch spürbaren Leichtigkeit nichts weg. Inmitten der ständigen LKW-Bewegungen arbeitend, verzichtet Seliger auf jegliche Fremdmaterialien. Er verwendet nur das, was er vor Ort gerade vorfindet. Ohne technische Hilfsmittel wie Gerüst, Hammer oder Mörtel konstruiert er Kegel, Säulen und Türme.

In seiner „konventionellen“ Arbeit als Bildhauer und Plastiker erweist sich Seliger als Formensucher, als Künstler, dem es um bizarre Formen und bildkräftige Farben geht. In seiner aktionistischen Deponiearbeit entpuppt er sich hingegen als Performer, der die Betonsteine und -platten, ohne sie zu planieren, als kontinuierlichen Übergang vom Chaos zur Ordnung wie wild aufeinanderschichtet. Er besteigt sogar seine Architekturen, um sie noch höher bauen zu können, und nimmt dabei bewusst das Risiko eines Einsturzes in Kauf.
Es ist denn auch weniger die künstlerische Qualität, die solche Aktionen kennzeichnet. Vielmehr bieten sie dem Künstler selbst die Möglichkeit, das Potenzial einer unmittelbaren und absichtslosen ästhetischen Erfahrung zu spüren. Ganz so wie sich fallweise eine flüchtige Kommunikation mit Reisenden auf der in der Nähe vorbeiführenden Autobahn herstellt. Die performative Dimension von Seligers Deponietätigkeit besteht einerseits in der Verwirklichung von Objekten und andererseits in der Umsetzung einer künstlerischen Praxisform. Der Impuls, die Intention und die Kraft, welche die Formen kreiert, basiert auf einem „Besessensein vom Bauen“, so der Künstler. Mehr noch: „Ich unterliege einer Lust am Architektonischen.“

Dialoge eines Nomaden

„Seligers Gehäuse bleiben tür- und fensterlos, es sind zweckfreie, künstliche Konstruktionen, die nicht gesockelt sind, sondern wie Urgebilde der Materie aus dem Boden gewachsen scheinen, eher archetypische, prähistorische Monumente und geheimnisvolle Kammern wandernder Nomaden“, schreibt Gottlieb Leinz treffend.

Welche Art der Annäherung an die Natur wählt Seliger nun? Es gibt in der Bildhauerkunst hiervon drei Arten: 1. Die Hereinnahme der Natur als Zitat – das beginnt im Dadaismus und Surrealismus, genauer dort, wo Wurzeln, Blätter, Muscheln, Steine, Knochen als Skulptur definiert oder als potenzielle Skulptur wahrgenommen und real einer Plastik einverleibt werden. 2. Die Analogiebildung zur Natur und ihren Struktur- und Formbildungsprozessen – das geschieht dort, wo Natur in ihrem Formenaufbau studiert und im Anschluss an morphologische Gesetzmäßigkeiten frei weiterverarbeitet wird. 3. Der Dialog mit der Natur – das liegt vor, wo Natur und Selbsterfahrung sich durchdringen und in actu als Dialog Gestalt annehmen.
Seliger betreibt auf der Ettenheimer Deponie den unmittelbaren Dialog mit den Dingen um ihn herum. Während er einerseits große Bauwerke für gewissenhaft ausgewählte Orte schafft, etwa für Parkanlagen, wie 2001 in Bad Homburg, ist andererseits die Deponie als Ort ein „informeller Ort“. Er baut dort, wo der Schutt gerade hinfällt. „Bei der Arbeit auf der Deponie ist die Stimmigkeit mit der Landschaft total“, erklärt der Künstler. Die Deponie-Arbeiten von Seliger können als Experimente und Dialoge zwischen Kunst und Natur mit jeweils offenem Ausgang verstanden werden.

Christiane Vielhaber hat Seligers Arbeit mit Bausteinen als Ready-mades (also konfektionierte Fertigware, die nach ihrer Verwendung im Alltag als Schutt auf der Müllhalde endet) sehr schön beschrieben: „Ziegel wollen geschichtet werden. Derart geschichtete Formgebilde folgen keiner Funktion, sie argumentieren nicht mit erstarrten Funktionen, sondern gehorchen rein statischen Gesetzen. So entstehen Hohlkörper wie babylonische Türme oder irdene Termitenhügel auf der einen und seltsam gerasterte und prekär instabil wirkende Kegelformen auf der anderen Seite. Gehäuse, die man besser nur zaghaft mit den Augen berührt, denn sie drohen ständig umzukippen. Wie ein Nomade sein Zelt überall dort aufschlägt, wo er zur Zeit gerade sein möchte, baut Seliger seine Gebäude immer dort, wo er seine Ziegel findet.“ Bis ein LKW vorbeibraust und in einem letzten Aufflackern das Material auf dem riesigen Abfallhaufen in sich zusammenfällt.

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