Susanne Ehrlinger

Skulpturen von Reiner Selinger – Der lange Marsch zur freien Kunst

Seinen Ausdruck findet Reiner Seliger in archaisch wirkenden Skulpturen im öffentlichen Raum oder in mit Bedacht gesetzten Wandreliefs. Aus schroffem Bruch von Ziegel, Marmor, Kreise, Glas oder Beton schafft der Künstler dreidimensionale Körper mit konvexen und konkaven Formen. Durch horizontale Schichtung gibt er Fragmenten eine neue Gestalt.

Es geht Reiner Seliger nicht um Architektur, die mit Kunst bestückt wird. Seine raumgreifenden Installationen setzt er vielmehr in Bezug zum jeweils Vorhandenen. So zeigt sich in seinem Werk kein Stillstand, nie Wiederholung. Denn der stets neu erschaffene Dialog von Material und Raum vermittelt jeder Installation ihren singulären Wert.

Manche Menschen entwickeln ihr Selbstverständnis schnurstracks und erreichen die angestrebten Ziele, ohne nach links oder rechts zu schauen. Andere hadern lange mit sich, ehe sie ihre Berufung finden und sich zum eigenen Œuvre bekennen. So ist auch im künstlerischen Werk von Reiner Seliger jene sich über lange Zeit entwickelte Kraft spürbar, deren geballte Intensität heute von der umfassenden und universellen Auseinandersetzung mit Material, Form und Wirkungsästhetik zeugt.

Intuitiv, dabei konstruktiv bewusst

Seit dreißig Jahren lässt der Künstler seine architektonischen Rauminstallationen entstehen – selten im Atelier, meist in situ auf der Schutthalde, in der freien Landschaft und auch auf nationalen und internationalen Ausstellungen. Intuitiv, dabei konstruktiv bewusst, schichtet er das gebrochene Material horizontal, gibt Trümmern und steinernen Industrieabfällen durch sein Gefüge eine neue Ordnung. Immer entwickeln die großen Plastiken ihre faszinierende Wirkung im Dialog zum Raum, im Skulpturengarten ebenso wie im barocken Schlosssaal. Archaische Gebilde, zeitlos und wie für die Ewigkeit geschaffen, ruhen in sich, erscheinen dabei aber auch brüchig, fragil und gefährdet.

Erst durch einen konzentrierten Erfahrungsschatz gestärkt, konnte sich Reiner Seliger zur freien Kunst bekennen. Wie in einem Bildungsroman erstreckt sich sein Leben von der Kindheit über etliche Etappen mit unterschiedlichsten Tätigkeiten an verschiedenen Orten bis hin zu seiner Kunst. Als jüngstes Geschwisterkind im großväterlichen Haus – einer angesehenen Glockengießerei – im schlesischen Löwenberg geboren, wuchs der Junge nach der Flucht auf einem bayrischen Bauernhof relativ eigenständig und unbehelligt von elterlicher Aufsicht auf. Die Mutter war mit der Organisation des Nötigsten beschäftigt, der Vater, eigentlich Vermessungsingenieur, arbeitete zunächst als Hilfsarbeiter im Ziegelwerk. In den 50er Jahren zog die Familie ins immer noch kriegszerstörte Düsseldorf.

Vom Spiel mit Schutt in Kriegsruinen zum Studium der Kunst

Es schien Reiner Seliger lange Zeit zu banal, seine Affinität zu gebrochenem Stein, zu Betonbruch oder Glas sowie das versunkene Spiel mit Schutt in den Ruinen als eine der unbewussten Antriebskräfte für seine künstlerische Affinität zu diesem Material zu sehen. Mit 14 Jahren begann er erst eine Lehre als Metallschlosser und arbeitete sieben Jahre lang als Facharbeiter, bevor er dem familiären Anspruch folgte und sich über die Abendschule den Zugang zur Folkwang Universität der Künste in Essen erarbeitete. Dort, unter Professor Werner Glasenapp, einem Industriedesigner mit Bezug zum Bauhaus, konnte zunächst der Spagat zwischen technischem Verständnis und experimentell flankierter Designausbildung gelingen.

In der Düsseldorfer Szene sah sich Seliger wiederum mit selbstbewussten Künstlern rund um Joseph Beuys, Günther Uecker und Jörg Immendorff konfrontiert; hier lag ab Mitte der 60er Jahre das Zentrum von Happenings in Deutschland. Im Umfeld der legendären Kneipe Creamcheese traf er ständig auf später avancierte Künstler wie Daniel Spoerri, Gerhard Richter, Sigmar Polke oder Konrad Lueg, die damals das Label „Kapitalistischer Realismus“ prägten.

Zwischenstation  Industrial Designer

Diese Zeit hat ihn stärker geformt, als es Reiner Seliger damals bewusst war. In dem kreativen und tonangebenden Umfeld hatte er jedoch noch Hemmungen, den Schritt zu eigenen Ausstellungen zu wagen, hielt sich nicht für gut genug. So arbeitete er erst einmal zehn Jahre lang als Industrial Designer in London, Mailand und Florenz und entwickelte verschiedene Patente, die ihm eine finanzielle Basis für die freie Arbeit verschafften.

Zwei Jahre Aufenthalt als Dozent am indischen National Institute of Design in Ahmedabad (NID) und die ernüchternde Rückkehr aus dem entspannten Hier und Jetzt in die bundesdeutsche Realität entfachten mit Ende 30 eine kreative und produktive Dynamik, die zur verstärkten Auseinandersetzung mit Kunst, von der Renaissance bis zur Moderne, führte. Bei der Renovierung eines alten Bauernhauses in Italien fachte ihn schließlich der Umgang mit Terrakotta wieder an, er vertiefte sich in das Schichten und Ordnen von Abbruchmaterial und entdeckte den Reiz des sinnbefreiten Verlegens von Fliesen auf baulichen Alltagsgegenständen wie Abflussrohren aus Beton.

„Dort hingehen, wo das Material ist“

Nun war der Sprung zur Kunst am Bau nicht mehr weit. Gewonnene Wettbewerbe, Ausstellungen in der Architekturgalerie München oder bei Aedes in Berlin ergaben sich. Für einen Lichtschacht in der Bibliothek in Lörrach schuf Seliger einen 20 Meter hohen, achteckigen, weiß gefliesten Kegel. „Immer schon habe ich experimentell gearbeitet, nun entwickelten sich organisch geformte Skulpturen, die ich zeigen wollte“, so der Künstler.

Seit jener Zeit realisiert er große, raumgreifende Arbeiten, die er in seinem Atelier, einem ehemaligen Elektrizitätswrek in Freiburg, erschafft. Durch die Statik bedingt, entstanden turmartige Gebilde- kegel- oder kuppelförmig, immer horizontal geschichtet. „Die Kuppeln erfordern radiale Schichtungen, die Erkenntnisse über ihren Aufbau entstehen aus dem Experimentellen heraus“, erläutert er. „Ich hatte diese künstlerische Arbeit jahrelang im Kopf, ich wollte dort hingehen, wo das Material ist, und vor Ort etwas aufbauen.
So entstanden auf Bauschutthalden entlang der A5 seine ersten Türme, die er ohne Werkzeug, ohne Gerüste, gerade so hoch, wie die Arme reichten, aufgebaut hat. „Die LKW-Fahrer haben den Schuttberg behutsam umfahren. Sie haben sich dafür interessiert, was ich so akrobatisch aus dem Schotter, den sie transportierten, schuf. Sie waren wirkliche Kunstliebhaber, mein erstes ernstzunehmendes Publikum.“

menu-circlecross-circle